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Das Radio und sein „Sendefutter“ von gestern, heute und (vor allem) morgen
Interview mit Michael Schmich, Air Supply Medienberatung
Radio ist auch im Streaming-Zeitalter noch immer das zentrale Musikmedium – ansonsten aber hat sich viel getan, seit Sie Ihre Laufbahn als Redaktionsassistent beim damaligen SWF3 Popshop begonnen haben. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Veränderungen im Rundfunkbereich?
Zunächst bleibt festzuhalten: Radio bleibt mit seiner hohen Anpassungsfähigkeit ein Medium, das sich seit über hundert Jahren immer wieder neu erfindet. Seit seinem Bestehen wurde das Ende des Hörfunks x-fach vorausgesagt. Mit Einführung des Fernsehens etwa, dem Start von Musikfernsehen oder der Digitalisierung. Auch das ewige Totschlagargument, dem Radio laufen die Jungen davon, wurde gerade erneut widerlegt. Fakt ist: Radio steht bei den Deutschen generationsübergreifend weiter hoch im Kurs – und verkörpert heute das letzte echte Massenmedium.
Gravierende Veränderungen – neben technischen Übergängen wie von Mittelwelle auf UKW oder dann später in die digitale Welt – waren der Start von Privatfunk und die Öffnung der öffentlich-rechtlichen Sender für Werbung. Die Einführung von Formatradio brachte den Hörern eine immer offenkundigere, inhaltliche Annäherung beider Systeme bei der Ausrichtung vieler Programme. Der Zwang, sich im Wettbewerb um Werbegelder mit der privaten Konkurrenz zu messen, hat die masse-attraktiven Programme der ARD in vieler Hinsicht verändert. Sei es bei Programminhalten, Technik oder der personellen Struktur. Wo beispielsweise in früheren Jahren ein kleines Heer an Redakteuren, Programmgestaltern, Moderatoren etc. das Musikprogramm eines Senders in jeweils eigener Verantwortung für die einzelnen Sendeeinheiten eines Tages zusammenstellten, entscheiden heute nur noch der Musikchef, (vielerorts) die Berater und die Medienforschung, mit welchen Hits die Musikablaufplanung gefüttert wird.
Das vielgescholtene Formatradio hat durchaus seine Berechtigung. Es benötigt Struktur und (im wahrsten Sinne) „Format“, um vom Publikum angenommen zu werden. Allerdings bin ich der Meinung, dass mancher Sender – wie bei einer Modelinie – durchaus schrillere Farben und Schnitte aushalten könnte. Ohne das Label zu sprengen. Und bei Rotationsgrößen von rund 120 unterschiedlichen Titeln am Tag sehe ich – statt der oft zitierten Vielfalt – eher das Gegenteil.
Kuratierte / moderierte Musiksendungen, in denen Künstlerinnen und Künstler stattfinden und Informationen zur Musik vermittelt werden, sind ein wichtiger Baustein für den Aufbau neuer Artists und Themen. Wie entwickeln sich solche Formate nach Ihrer Beobachtung, welche Tendenzen sehen Sie aktuell?
In der Tat nahmen moderierte Musiksendungen über eine lange Zeit in jedem Programm prominente Funktionen zur Hörerbindung ein. Ich erinnere hier beispielsweise an die beliebten Hörerhitparaden, die mangels Teilnahme seitens der Hörerschaft schon lange als ausgestorben gelten. Wie auch die kuratierten Spartenspecials, bei denen fachkundige Moderatoren in eigener Verantwortung Musik und Künstler vorstellten, die ihrer Meinung nach Potenzial und Zukunft hatten. Ohne diese meinungsstarken Sendungen wären viele Pop- und Rockkarrieren in den 1970er- bis 1990er-Jahre nicht möglich gewesen.
Heute sehen wir hier – schon seit längerer Zeit – eine geteilte Radiowelt. Während sich die öffentlich-rechtlichen Kultursender weiter umfangreiche Portfolios einschlägiger Sendungen leisten, haben die meisten Popsender kuratierte Musikspartensendungen gestrichen oder stark reduziert. Eine Angebotsdichte wie bei rbb radioeins oder rbb Fritz sind löbliche Ausnahmen. Von 2021 bis 2023 sank beim Privatfunk die Zahl von Musikspezialsendungen um rund 27 Prozent. Als Ersatz streuen die Sender vermehrt punktuelle musik-redaktionelle Beiträge im Tages- und Abendprogramm ein. Die allerdings nur eine bescheidene Musikbreite abdecken – und sich meist mit der musikalischen Gesamtanmutung eines jeweiligen Programmes deckt. Diese Praxis hilft den Sendern die „Durchhörbarkeit“ im Programm zu erhalten und Abschaltimpulse durch „sperrige“ Musikgenres zu unterbinden. Was auch zur Folge hat, dass heute in Popwellen kaum mehr Live-Mitschnitte oder Konzertübertragungen ausgestrahlt werden.
Dass auch längere Musikspecials durchaus ihren Stellenwert beim Publikum haben, zeigen Spartenprogramme wie Radio BOB!, Rock Antenne, ByteFM, Sunshine Live oder einige Schlagerradios, die mit zahlreichen Musikangeboten zuletzt gute Reichweitenergebnisse eingefahren haben.
Wie ist die aktuelle Situation mit Blick auf die Präsentation von neuer und neuartiger Musik im Radio – gab es hier früher möglicherweise mehr Experimentierfreude?
Dies ist eine Diskussion, die die Branche seit Jahrzehnten führt. Die größeren Spielräume gab es früher auch aufgrund der erwähnten personellen Strukturen. Ein deutlich härterer Wettbewerb durch das Hinzukommen immer neuer Programmangebote sowie Konkurrenz durch die sozialen Medien und Streaming führten dazu, dass die jährlichen ma-Reichweiten für einen werbebasierten Sender von zentraler Bedeutung sind. Wer verliert schon gerne Hörer? Daher wurden die Sender immer durchhörbarer, (oft) streng nach Vorgaben der Marktforschungzahlen ausgelegt. Und diese sieht eben wenige Abschalteffekte durch Experimente bei den Musikabläufen vor. Man präsentiert den Hörern also eine durchgängige Wohlfühlatmosphäre mit angenehmen Stimmen und vertrauten Sounds. Neue Musik und Künstler:innen jenseits des Mainstreams tun sich folglich schwer – und finden meist nur noch bei den Kulturradios, einigen (wenigen) kleineren Stationen oder nicht-kommerziellen Angeboten statt.
Allerdings macht mir eine recht aktuelle Entwicklung etwas Mut: Während vor noch nicht allzu langer Zeit sich die meisten Sender bei der Bestückung der Playlisten oft an den „Offiziellen Charts“ orientierten und neue Musik jenseits dieser Bestenliste ausblendeten, ist hier ein neuer Trend erkennbar. Konkret: 2018 waren zum Beispiel im Musikprogramm bei ENERGY rund 77 Prozent der Plays gleichzeitig in den aktuellen „Offiziellen Deutschen Single Charts“ vertreten. Nur fünf Prozent der Einsätze stammten von neuen (nicht platzierten) Stücken. In den letzten Jahren hat sich dieser Wert gekehrt: Nun kommen nur noch rund 30 Prozent der Plays aus den Charts und 48 Prozent von (nicht platzierten) Neuheiten – darunter auch diverse Newcomer (veröffentlicht binnen der letzten neun Monate). Eine Entwicklung, die inzwischen auch bei sehr vielen anderen Popwellen zu beobachten ist.
Obwohl deutschsprachige Musik im Streaming-Bereich sehr erfolgreich ist, scheint sie den hiesigen Radiosendern schwer vermittelbar: 2022 war nicht ein einziger deutschsprachiger Titel in den Top 100 der Airplay-Charts zu finden, 2023 nur vier. Das kritisiert unsere Branche immer wieder und auch Sie haben das verschiedentlich kommentiert. Was denken Sie, woran das liegt?
Ich denke, die Entscheidungsträger sind früher ungezwungener mit der Sprache umgegangen. Zu meiner Anfangszeit stellten die Programmgestalter innerhalb einer Sendung Künstler:innen wie Reinhard Mey, Paola, Ihre Kinder, Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader vor. Erklärten den Hörer:innen per Moderation aber ausführlich, warum sie diese Musik ausgewählt hatten. Der damals gerade aufstrebende Udo Lindenberg generierte als Newcomer (auch im Süden) ebenso reichlich Airplay wie BAP oder die Stücke der Neuen Deutschen Welle.
Mit der Einführung von Formatradio änderte sich diese Offenheit. Ab da achteten die Entscheidungsträger stärker darauf, ob ein Song oder Künstler:in zur Anmutung eines Programmes passt. Gratwanderer wie Udo Jürgens oder Peter Maffay gerieten dabei immer öfter in die musikalische „Formatfalle“, weil sie nach Meinung der Sender weder in ein Pop- noch in ein Schlagerformat passten. Und in der Folge kaum mehr eingesetzt wurden.
Heute setzen die meisten Sender verstärkt auf die Ergebnisse ihrer hausinternen Musikforschungsinstrumente, die (mit Ausnahme einiger urbanen Regionen) beispielsweise deutschsprachigem HipHop/Rap eine nur sehr eingeschränkte Radiotauglichkeit attestierten. Weil das Genre laut interner Hörerumfragen die eher kleine Gruppe der jungen männlichen Radiohörer anspricht. Hinzu kommt das Problem mitunter grenzwertiger Textpassagen. Trotz hervorragender Werte beim Streaming und Platzierungen in den „Offiziellen Single-Charts“ findet Rap daher geringen Zutritt in Playlisten. Dennoch sind die Senderverantwortlichen gut beraten, Künstler:innen des Genres, die sich mit ihrer Musik zuletzt immer stärker in Richtung Pop bewegen, hörbarer zu berücksichtigen.
Rückläufig sind die Einsätze für deutschsprachige Singer-Songwriter wie Oerding, Forster, Clueso oder Giesinger, die vor einigen Jahren noch feste Größen im Pop-Programm waren. Eine wahre Flut an Veröffentlichungen weniger gut produzierter („schlagerhafter“) Nachzieher bremste diese Entwicklung aus und führte hier kontraproduktiv zu mehr Zurückhaltung seitens der Musikentscheider.
Die Schlagerproduktionen leiden im Radio eher unter einem strukturellen Problem. Während die neuen Hits bei zahlreichen Pop- und Jugendwellen täglich bis zu neun Einsätze/Sender generieren, schaffen Schlagertitel – bei deutlich weniger Sendern mit geringerer Reichweite – nur einen Bruchteil an Radiopräsenz. Als Folge sind Schlagerstücke meist erst auf den hinteren Rängen der Airplay-Charts zu finden.
Nach Ihren persönlichen Erfahrungen, Eindrücken, Einblicken, Wahrnehmung: Wie könnte man diese Situation verbessern?
Schwere Frage. Die Beraterin eines Senders beklagte im vergangenen Jahr das Fehlen von derzeitigen „Überhits“. Als Konsequenz regte sie an, dann doch besser auf mehr prominente Tophits aus den letzten vier Jahren zurückzugreifen. Im Übrigen solle man abwarten, bis wieder mehr Nachschub verfügbar ist. Aber was, wenn es keine aktuellen „Überhits“ mehr gibt? Werden dann nur noch zeitlose Hits von gestern ausgestrahlt? Was vor dem Hintergrund von tagtäglich über 100.000 bei Streamingdiensten hochgeladener Musiktitel – darunter mutmaßlich einer hohen Zahl an Neuerscheinungen – ein schon sehr gruseliger Ausblick wäre.
Eine Stärke des Radios zu allen Zeiten war es, neue Musik und Künstler:innen für die breite Masse zu entdecken und der Hörerschaft näher zu bringen. Auch jetzt im Zeitalter von Spotify und TikTok. Radio ist also gut beraten, diese Gatekeeperfunktion nicht gänzlich zu ignorieren. Dies kann – je nach Format – unterschiedlich hörbar ausfallen. Ich fände es schade, diesen bewährten Kreislauf durch ein zu dogmatisches „Wir spielen Hits, machen aber keine“ zu unterbrechen. Auch im Sinne der Radiosender selbst. Wo bleibt sonst das Sendefutter von morgen? Wo die neuen (nationalen) Stars, die nicht zuletzt beim Interview im Studio oder auf den Bühnen der Off-Air-Events der Sender immer gerne gesehene Gäste sind.
Über Michael Schmich:
Michael Schmich startete seine Laufbahn als Redaktionsassistent beim damaligen SWF3 Popshop. Ab Ende der 1970er-Jahre war er als Mitarbeiter der ersten Stunde bei Media Control in Baden-Baden verantwortlich für den Aufbau von Musik-Monitoring im Radio, was heute MusicTrace organisiert. 1992 erfolgte die Gründung der Air Supply Medienberatung. Seither ist er als selbstständiger Dienstleister für die Musik-, Hörfunk- und PR-Branchen sowie für Verwertungsgesellschaften und als Herausgeber des monatlichen Newsletters „Radio Trends“ und als freier Autor beim Branchendienst „Radioszene“ tätig.