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INSIGHT QUARTERLY
BVMI-Vorstandsvorsitzender Dr. Florian Drücke mit einem Blick auf das abgeschlossene Branchenjahr und die aktuelle Situation
Die Zeit, die wir aktuell gemeinsam erleben, ist eigentlich kaum zu begreifen. Nach zwei Jahren Pandemie, die uns als Gesellschaft wie als Branche bereits in einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen neuen Aggregatzustand versetzt hat, stellt seit dem 24. Februar die russische Invasion der Ukraine viele andere vermeintliche Gewissheiten endgültig auf den Kopf. Seit Wochen konfrontiert uns ein Krieg in der direkten Nachbarschaft mit Bildern von unfassbarem Leid, von Zerstörung und Brutalität; von Berlin erreicht man die ukrainische Grenze mit dem Auto innerhalb von nur neun Stunden und so ist die Pandemie, obwohl noch nicht ausgestanden, in der öffentlichen Debatte deutlich in den Hintergrund gerückt. Beides wird uns weiter beschäftigen in sehr vielen Bereichen des Lebens und damit auch in unserer Branche und dem beruflichen Alltag.
Angesichts dieser Entwicklungen und weiterer Milliardenhilfen für Unternehmen, die „Härten abfedern und Strukturbrüche verhindern“ sollen (Finanzminister Lindner), werden nicht wenige der im Koalitionsvertrag niedergelegten Vorhaben der Ampelkoalition, die erst seit gut vier Monaten im Amt ist, hintanstehen müssen. Prioritäten haben sich verändert bzw. gefundene Kompromisse müssen neu interpretiert werden in einer Zeit, in der unter anderem die Wiederertüchtigung öffentlicher Schutzräume geprüft wird.
Schauen wir deshalb erst einmal zurück, wie immer um diese Zeit, als Verband in der Chronistenrolle. Der Blick auf das Branchenjahr 2021 zeigt eine sehr positive Dynamik, die die Entwicklung der Vorjahre weiter verstärkt hat. 10 Prozent Wachstum, das erste zweistellige Plus seit Jahrzehnten, führt die Branche zu einem Gesamtumsatz von 1,96 Milliarden Euro und damit kurz vor die 2-Milliarden-Marke. Zum ersten Mal wurden dabei mehr als drei Viertel des Umsatzes – 76,4 Prozent – online erzielt. Die Audio-Streaming-Kurve ist mit 18,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr zwar etwas flacher ausgefallen (2020 waren es +24,6 Prozent), trotzdem ging es weiter deutlich nach oben auf einen Marktanteil von nun 68,3 Prozent. Die CD bleibt auf Platz 2 bei einem Umsatzanteil von 16,3 Prozent, an dritter Stelle liegt wie im Vorjahr Vinyl, das erstmals seit Beginn seiner Wiederentdeckung im Jahr 2007 auf einen Anteil von bemerkenswerten 6 Prozent am Gesamtmarkt kommt. Damit bleibt die Schallplatte zwar aufs Ganze gesehen in einer Nische, doch ist diese Nische ein relevanter Teil des Formatspektrums, der dazu beiträgt, dass der Beitrag des physischen Marktes mit 23,6 Prozent nach wie vor recht stabil ist. Dieser besonderen Erfolgsgeschichte sind wir mit einer repräsentativen Online-Erhebung nachgegangen, mehr dazu ab Seite 30 des Jahrbuchs.
Apropos Musiknutzung: 70 Millionen Musiktitel sind inzwischen über die verschiedenen Plattformen zeit- und ortsunabhängig zugänglich, täglich werden rund 60.000 weitere allein auf einer der großen Plattformen hochgeladen. Eine schier unglaubliche Fülle. Und auch die Chancen, die sich den Musiker:innen heute bieten, sind gigantisch. Zumindest in der Theorie kann jede:r heute alles im DIY-Verfahren tun: die eigene Musik produzieren, veröffentlichen und vermarkten, sich mit Fans connecten und die Community kontinuierlich ausbauen. Unsere Branche hat hier in den vergangenen zwei Jahrzehnten Impulse weit über die eigenen Grenzen hinaus gesetzt. Als Modellbranche, als Ideenschmiede und in gewisser Weise auch als Taktgeberin eines kreativ-unternehmerischen Aufbruchs in eine immer digitalere Gesellschaft. Großartige Chancen für alle Akteur:innen und eine Entwicklung, die die Rolle von Künstler:innen vollkommen verändert und die Beziehung zu ihrem Label auf ein neues Fundament gestellt hat. In einer Welt, in der Künstler:innen theoretisch längst alles in Eigenregie tun können, ist das Label mehr denn je Möglichmacher, kreativer Partner und Verstärker an genau den Stellen und Schnittstellen, an denen die Musiker:innen Unterstützung suchen, ob im Zusammenhang mit ihrer persönlichen künstlerischen Entwicklung, im Wettbewerb um Aufmerksamkeit im immer vielfältiger werdenden Digitalkosmos oderoderoder. Mehr dazu im Kapitel „Musikfirmen“ ab Seite 20.
Künstler:innen steht es frei, freier denn je, ob und an welchen Stellen sie sich für die Partnerschaft mit einem Label entscheiden. Dies muss man betonen, weil, medial begleitet, bekanntlich seit einiger Zeit äußert engagiert über das Thema „Verteilungsgerechtigkeit“ im Streaming-Zeitalter debattiert wird, und dieser zentrale Aspekt dabei allzu oft unbeachtet bleibt. Die Musiknutzung hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren extrem verändert. Das Musikstreaming hat wieder Wachstum ermöglicht, für alle Beteiligten. Es ist ein ebenso chancenreiches wie wettbewerbsintensives Umfeld, in dem etablierte Anbieter, aber eben auch immer wieder neue Player aufeinandertreffen. Zum Beispiel TikTok, das den Musikkonsum innerhalb kürzester Zeit erneut stark verändert hat. Tatsache ist: Musiker:innen mit professionellem Anspruch stoßen angesichts der ständig wachsenden Zahl an unterschiedlichsten Plattformen, Kanälen und Formaten in Richtung Fans, die alle nach jeweils eigenen Regeln funktionieren, unvermeidlich an individuelle Grenzen.
Deshalb sind in der heutigen Musikwelt Partnerschaften so wichtig, wichtiger denn je. Wenn es dabei um ein Label geht, umfasst dessen Angebotsportfolio je nach Unternehmensgröße nicht nur Infrastruktur, Know-how und Investitionen in allen relevanten Bereichen rund um die Produktion und Veröffentlichung von Musik. Es sind eben auch die Labels, die die Vorschüsse zahlen, nicht die Plattformen. Das sollte man bei dieser Debatte im Blick behalten und in der eigenen Argumentation berücksichtigen.
Und apropos Plattformen: Der BVMI tritt seit langem für eine klare Haftungslage bezüglich der Plattformen und damit verbunden der Lizenzierung als Notwendigkeit für den Erfolg von Kreativen und ihren Partnern am Markt ein. Dass wir die deutsche Umsetzung der DSM-Richtlinie in der vergangenen Legislatur für falsch halten, ist bekannt. Aktuell wird auf europäischer Ebene der Digital Services Act im Trilog verhandelt. Hier werden wir uns dafür einsetzen, dass bestehende Klarheiten nicht aufgeweicht und/oder neue Schlupflöcher für Plattformen geschaffen werden, die ein Vorgehen gegen illegale Angebote schwächen.
Es bleiben insgesamt mehr als unruhige Zeiten, in denen sich selbst die in anderen Situationen oft beruhigende Kraft der Formel „Panta rhei“, alles ist im Fluss, nur äußerst schwer finden lässt. Immerhin, Musik kann dabei helfen, bei alledem ein bisschen bei sich zu bleiben. Eine Untersuchung von IFPI in 21 Ländern hat ergeben, dass in Deutschland für 85 Prozent der Befragten Musik in der Phase der Pandemie ihr Wohlbefinden gesteigert habe, drei Viertel (75 %) sagten, sie habe ihnen zu einem Gefühl von Normalität verholfen.
Generell würde ich mich sehr freuen, wenn wir das „postpandemische“ Miteinander wieder real üben könnten, in realen Räumen persönlich um Positionen ringen und die Relevanz der verschiedenen Themen dabei stets wieder neu verorten.
Bei einer solchen Gelegenheit können wir uns dann auch sehr gern zum einen oder anderen Insight austauschen, das Sie im Jahrbuch finden.
Ihr
Dr. Florian Drücke
Vorstandsvorsitzender
Bundesverband Musikindustrie e.V.